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Segmentprobleme




Begriffsbestimmung, Anatomie und Physiologie der segmentalen Körpergliederung (Metamerie), ihre diagnostische und therapeutische Bedeutung

Die Entwicklung des Segmentbegriffes und die Metamerie der Wirbeltiere

Sehr viele Lebewesen, die uns als Individuen, als Lebenseinheiten erscheinen, zeigen in ihrem Körperbau eine eigentümliche Unterteilung.
Man erkennt regelmäßig wiederkehrende Einkerbungen, Einschnürungen oder andere Markierungen. Innerhalb dieser Abschnitte findet man sich wiederholende Ausstattungen mit bestimmten Organstrukturen: Knospe, Blatt oder Verzweigung bei der Pflanze, Organe, Gliedmaßen oder Gerüstelemente beim Tier.

Zerlegt man solche Individuen in die Einzelglieder, d. h. isoliert man die einzelnen Unterabteilungen, so zeigt sich, daß diese nicht selten eine selbständige Überlebensmöglichkeit besitzen, ja, daß sie unter Umständen sogar in der Lage sind, aus eigener Potenz, aus eigenem Material wieder ein vollständiges neues Individuum - wiederum mit vielen Unterteilungen - hervorzubringen.

Schon bei den Pflanzen läßt sich eine solche Gliederung erkennen. Man kann einen Pappelzweig zerschneiden, in die Erde stecken und erlebt dann, wie aus jedem Abschnitt eine vollständige neue Pflanze entsteht. Voraussetzung ist im allgemeinen nur, daß der Einzelabschnitt mindestens eine Knospe enthält. Bei manchen Pflanzen ist allerdings nicht einmal dies notwendig. Man kann zum Beispiel bei Rexbegonien und bei Seidenhanf Blattfragmente auspflanzen. Auch diese Blatteile können sich zu vollständigen Pflanzen entwickeln.

Rundwürmer oder Bandwürmer besitzen auffallend regelmäßig gebaute Einzelringe bzw. Einzelglieder, von denen jedes mehr oder weniger die Gesamtausstattung mit lebensnotwendigen Organen besitzt (homonome Segmentierung). Lediglich das Kopfsegment zeigt wesentliche Besonderheiten, z. B. Fühler und andere Sinnesorgane. Solche Tiere können zum Teil, wenn man sie zerschneidet, die verloren gegangenen Körperabschnitte regenerieren.

Mit zunehmender Differenzierung geht diese Regenerationsfähigkeit verloren. Aber noch die meisten Arthropoden zeigen die einzelnen „Segmente“, die zwar abgewandelt, aber zumindest in Rudimenten den primär uniformen Bau erkennen lassen. Die verschiedenen Körperabschnitte lassen sich bereits grob makroskopisch abgrenzen und voneinander unterscheiden. Die Segmente sind aber ungleichwertig (heteronome Segmentierung).

Die bei Anneliden (Ringelwürmern) und Arthropoden auffallende äußere Segmentierung veranlaßte die Zoologen früher zu einer Zusammenfassung dieser Tierstämme bzw. Unterstämme zu einem gemeinsamen Stamm: Articulata (Cuvier).

Auch alle Wirbeltiere sind in bestimmter Weise in Unterabschnitte gegliedert, erkennbar vor allem an der Aufteilung des Achsenskelettes in Einzelwirbel. Vorstufe und zugleich Urbild dieser Gliederung stellt das Lanzettfischchen dar.

Prinzipiell den gleichen Grundaufbau zeigt das Skelett der

Fische,
Reptilien,
Vögel
und der Säugetiere.

Romantische Vorstellungen haben frühe naturwissenschaftliche Theorien über die Segmentbildung beeinflußt. Noch der Anatom Gegenbaur und der Zoologe Haeckel sahen in dieser segmentalen Gliederung der Wirbeltiere „Sprossungen“, Aneinanderkettungen rudimentärer Einzelindividuen.

Das Längenwachstum der Wirbeltiere beruhe, so meinte man, auf einer Aneinanderreihung unvollständiger Einzelindividuen („Segmente“), von denen jeder Abschnitt wenigstens in gewissen Entwicklungsstadien Anlagen der lebenswichtigen Organe selbst entwickeln könne. Die Anlagen der „Vorniere“ z. B. haben solche Ideen hervorgerufen. Auch der Körperbau des Lanzettfischchens konnte zu solchen Gedanken anregen.

Der Vorgang der Wirbeltiersegmentierung wurde also wesensmäßig direkt verglichen mit den Gliedsprossungen der Bandwürmer. Auch Haeckel vertrat eine solche Vorstellung. Seine Theorie von der „relativen Individualität“ ist eine für Pflanzen und Tiere gültige Unterscheidung „mehrerer übereinander geordneter Kategorien von Individuen, von denen jede höhere zwar eine geschlossene Einheit, aber dennoch zugleich eine Vielheit von subordinierten Individuen niedriger Stufe darstellt.“

So wären die „Segmente“ Einzelindividuen, die sich zu einer höheren Einheit zusammengeschlossen hätten,ähnlich wie etwa die Zellen - die unterste Stufe von lebensfähigen Einzelindividuen - oder etwa auf einer ganz anderen Stufe die Bienen, die uns als „physiologische Individuen“ oder „Bionten“ erscheinen. Die Einzelzellen sind in vielen Fällen selbständig Überlebens-, ja vermehrungsfähig, wenngleich sie sich zum Aufbau eines höheren Individuums zusammenfinden können und sich dann diesem Bauplan unterordnen. Die Bienen sind, obwohl sie eine so weitgehende Selbständigkeit als Individuen besitzen, dauerhaft überlebensfähig nur in ihrem Stock, nur in dieser Gemeinschaft vermehrungsfähig. Haeckel stellte folgende Stufenleiter der Kategorien von Lebenseinheiten auf:

  1. Die Zelle
  2. der Zellverband (das Organ)
  3. das Gegenstück (Antimer), d. h. die beiden Körperhälften bei bilateral symmetrischen Körpern. Beim Seestern könnte man 5 Antimere unterscheiden
  4. das Rumpfglied (Metamer oder Segment)
  5. die Person
  6. der Stock (Cormus).

Die moderne Embryologie hat diese Theorien zerstört. Die Beobachtungen früher Wirbeltierkeime (auch menschlicher Embryonen) zeigten, daß das Längenwachstum nicht in Form „segmentaler“ Sprossungen vor sich geht, vielmehr entstehen zunächst beiderseits der Chorda dorsalis erste Mesenchymansammlungen („Stammplatte“), das Stammgewebe für spätere Differenzierungen in Skelett, Muskeln und Bindegewebe. Diese Streifen entstehen als durchgehende, einheitliche, nicht unterteilte Gewebsverbände. Sehr früh kommt es dann innerhalb dieser Streifen zu einer Aufteilung, einer „Segmentierung“ in sogenannte Somite oder Ur-wirbel (siehe Abb. 27).

Das heißt also: Das Längenwachstum wird nicht verursacht durch „quantenartige“ Knospungen in Segmentsprüngen. Die Mesenchymanlagen wachsen kontinuierlich in die Länge. Der „Sinn“ des Zerfalls in Einzelabschnitte läßt sich verständlich machen mit Hilfe eines Experimentes. In einem regenerierenden Eidechsenschwanz bilden sich die Muskelanlagen beiderseits der Mittelachse in einheitlichen Streifen aus. Diese Streifen zerfallen in Segmente, sobald man dem neu gebildeten Schwanz Bewegungen ermöglicht. Man faßt daher die Segmentierung heute als einen Anpassungsvorgang langgestreckter Körper an ihre schlängelnde Fortbewegungsart auf, z. B. der Fische im Wasser oder der Reptilien auf dem Lande.

Diese Urwirbelbildung, der Zerfall der mesenchymalen Stammplatten, ist als Grundvorgang jeder Segmentgliederung bei Wirbeltieren anzusehen.

Die verbreitete Meinung, daß das Nervensystem diese Segmentbildung diktiert, ist unrichtig. Vielmehr folgt das Nervensystem sekundär durch Formierung der Spinalnerven und -ganglien der vorausgegangenen Gliederung der Somite. Stört man durch operative Eingriffe am Keimling die mesenchymale Urwirbelanlage, so wird auch die segmentale Ordnung der Spinalnerven durcheinander gebracht.

Noch der primitive Urwirbel knüpft nun seine Verbindung zum zentralen Nervensystem - zum Rückenmark - über den Spinalnerven, der sich der vom Urwirbel diktierten Ordnung, eben der Metamerie, unterwirft.

Diese Urwirbel (Somite) differenzieren sich in der weiteren Entwicklung in Skelett, Skelettmuskeln und Bindegewebe, das zur Haut und zu den Eingeweiden hinwandert. Diese verschiedenen und verschiedenartig differenzierten Gewebsfragmente der Somite wandern vom Ort ihrer Entstehung aus in die Leibeswand oder sogar in die Extremitäten. In ihrem definitiven Situs im fertigen Individuum läßt sich anatomisch ihre segmentale Herkunft nicht mehr erkennen. Weder die Haut noch die einzelnen Muskeln lassen einen Einblick in ihre ursprüngliche Somitenordnung zu.

Dennoch bleibt uns ein untrügliches Kriterium erhalten, das uns stets die segmentale Herkunft der verschiedenen Gewebsanteile anzeigt: der Spinalnerv. Er hat in frühesten Entwicklungsstadien eine dauerhafte Verbindung zu dem Somitengewebe geknüpft, und seine Fasern folgen diesen Gewebsanteilen auf all den verschlungenen Wegen ihrer weiteren Entwicklung. Der Ursprung des Spinalnerven aber, seine Wurzel, bleibt am Ort der Enstehung liegen. So bleibt er uns Wegweiser und Orientierungspunkt für alle Studien der segmentalen Innervation.

Als Segment bezeichnen wir das gesamte Areal, das ein einzelner Spinalnerv in den verschiedenen Geweben versorgt.

Unterabteilungen eines Segmentes sind:

  1. Das Dermatom - Einflußgebiet eines Spinalnerven innerhalb der Haut, d. h. der Subcutis, Cutis und Epidermis.
  2. Das Myotom - Einflußgebiet eines Spinalnerven innerhalb der Skelettmuskulatur.
  3. Das Enterotom - Einflußgebiet eines Spinalnerven innerhalb der Eingeweide.
  4. Auch die vegetative Innervation von Gefäßen, Schweißdrüsen und Piloarrectoren unterliegt einer segmentalen Ordnung. Diese Ordnung weicht von der Einteilung der Dermatome besonders in den cranialen und caudalen Abschnitten erheblich ab, weil sich die Verteilung des Sympathikus innerhalb des Rük-kenmarkes auf die Segmente C 8 bis L 2 beschränkt (s. unten).
  5. Es sind weiter die Termini Skierotom und Neurotom aufgestellt worden. Sie sind beide schlecht begründet und eigentlich entbehrlich. Über die segmentale Innervation der Knochen wissen wir wenig, lediglich im Bereich der Wirbelsäule und der Rippen ist diese Ordnung bereits grob makroskopisch erkennbar. Allerdings repräsentiert der einzelne Wirbel nicht eine segmentale Einheit. Das Zentrum des Segmentes ist die Bandscheibe, und jeweils die darüber und darunter liegende Hälfte eines angrenzenden Wirbels gehört zu diesem Segment. Der Begriff des Neurotoms ist bei der zu Grunde liegenden Definition des Segmentes (s. oben) auch schlecht haltbar: Der Spinalnerv ist eben der einzige Wegweiser des Segmentes. Das Zentralnervensystem dagegen und auch das Rückenmark, das ja ein Teil des Zentralnervensystems ist, ist weder phylogenetisch noch ontogenetisch segmental angelegt. Seine innere Struktur läßt keine Segmentgrenzen erkennen.

Im Kopfbereich (Hirnnerven ausschließlich des Nervus hypoglossus, der phylogenetisch ein Konglomerat von 3 bis 4 Spinalnerven darstellt), gibt es keine der spinalen Segmenteinteilung - Metamerie - entsprechende Ordnung. Hier konkurriert ein unabhängiges Ordnungsprinzip: die Kiemenbogeneinteilung - Branchiomerie.

Eine gewisse Schwierigkeit bei der Segmentabgrenzung besteht insofern, als man das Einzelsegment nicht säuberlich scheibenförmig von den Nachbarsegmenten trennen kann. Jede lineare Segmentbegrenzung beruht auf einer Abstraktion, denn die Segmente und ihre Unterabschnitte sind stets mit ihren Nachbarsegmenten mehr oder weniger stark vermischt, die Grenzen sind deshalb sehr verschwommen.

Im Bereich der Dermatome lassen sich die Grenzen mit Hilfe der verschiedenen Untersuchungsmethoden nicht einheitlich exakt erfassen. Am zuverlässigsten sind im Bereich der Dermatome Störungen mit Hilfe der Algesieprüfung zu erkennen (s. S. 27). Wegen der starken Überlappung der Segmentareale müssen positive Markierungen (Reizerscheinungen im Bereich einer Wurzel oder eines Spinalganglion, wie z. B. reflektorische Muskelverkrampfungen, reflektorische Hyperalgesien und Zosterefflores-zenzen größere Areale anzeigen als negative Manifestationen (Defekte der Haut- oder Muskelinnervation bei Durchtrennung oder Kompression eines Spinalnerven).

Positive Markierungen können sich nämlich auf alle Gewebsbezirke auswirken, zu denen noch einige Fasern des gereizten Segmentes bzw. der gereizten Nervenwurzel hinziehen. Im Zentrum, das fast ausschließlich von dieser Wurzel versorgt wird, wird diese Erregung freilich am stärksten sein. Zur Peripherie hin nehmen die Reizerscheinungen allmählich ab. Die negativen Markierungen, d. h. die Auswirkungen von Kompressionen oder Durchschneidungen einzelner Spinalnervenwurzeln sind dagegen eng begrenzt, enger als dem abstrakten Segmentbegriff entspricht. Die intakt gebliebenen Nachbarwurzeln kompensieren vom Rand der Segmente her die Defekte, zum Teil vollständig, wie z. B. bei der taktilen Aesthesie. Teilweise bleiben nicht kompensierbare Restausfälle bestehen. Diese verbleibenden Defekte kennzeichnen jeweils die Zentren der betroffenen Segmente (Dermatome oder Myotome). Deshalb bilden solche monoradikulären Ausfallssyndrome bestes Anschauungsmaterial für die Topik der segmentalen Innervation.


Anatomie und Physiologie der Metamerie und die klinischen Segmentmanifestationen beim Menschen

Der Erforschung der Anatomie der segmentalen Innervation bei höheren Wirbeltieren standen erhebliche Schwierigkeiten im Wege. Der naheliegende Gedanke, die Nervenfasern von ihrem Ursprung her zur Peripherie hin anatomisch-präparatorisch zu verfolgen, ließ sich nur sehr fragmentarisch verwirklichen. Eine Präparation des Spinalnerven zu seinem Erfolgsorgan ist eigentlich nur im Bereich der Thorakalsegmente möglich, da der Verlauf der einzelnen Spinalnerven zwischen den Rippen relativ gut überschaubar ist und keine Plexusbildungen mit den Nachbarnerven stattfinden. Aber auch hier sind z. B. die zu den Eingeweiden ziehenden Fasern - die schmerzleitenden viszerosensiblen Nerven, die uns im Zusammenhang mit den viszerokutanen und den kutiviszeralen Reflexen besonders interessieren - nicht mit den Mitteln der Anatomie zu erfassen. Sie sind nämlich unübersehbar vermischt mit den efferenten Fasern der vegetativen Eingeweidenerven, von denen sie morphologisch nicht zu unterscheiden sind. Ihre Existenz läßt sich klinisch anhand der reflektorischen und algetischen Krankheitszeichen erkennen, ihre Sonderstellung gegenüber den efferenten vegetativen Fasern nur beweisen, weil sie eine wesentlich größere Leitgeschwindigkeit besitzen.

Im Bereich der großen Nervengeflechte (Plexus cervicobrachialis und Plexus lumbosacralis) kann man die Nervenfasern präparatorisch nicht isolieren. Die Anatomen haben unendliche Mühen auf diese Arbeit verwandt.

Wir können ihre Ergebnisse - sie sind größtenteils vor 1900 entstanden - ihre großartigen Plexuszeichnungen nur mit größter Bewunderung betrachten. Dennoch blieb die auf diese Weise erreichte segmentale Einordnung der Muskulatur und auch der Haut, besonders innerhalb der Extremitäten, sehr lückenhaft.

Hier mußten klinische Beobachtungen die anatomischen Ergebnisse vervollständigen. So wurde die Segmentforschung zu einem Musterbeispiel dafür, in welch glücklicher Weise Anatomie und Klinik sich wechselseitig zu ergänzen und zu kontrollieren vermögen.

Zum Studium der segmentalen Anatomie sind die eng umschriebenen Ausfallssyndrome weit besser geeignet als die breitstreuenden, an ihren Grenzen verschwimmenden segmentalen Reizerscheinungen (s. S. 30). Krankheitserscheinungen an den spinalen Nervenwurzeln (in erster Linie kommen hier die häufigen Bandscheibenerkrankungen oder die selteneren Tumoren in Frage), aber auch an den Spinalganglien (Zoster) führen zu den klarsten und am besten erfaßbaren segmentalen (radikulären) Ausfällen.

An folgenden Symptomen können wir uns orientieren:

1. Störungen der segmentalen sensiblen Hautinnervation (Dermatom)

Jeder Spinalnerv versorgt sensibel einen bestimmten Hautstreifen, den wir als Dermatom bezeichnen. Die Begrenzung dieser Versorgungsareale ist verschwommen, d. h. die verschiedenen Dermatome zeigen eine weitgehende Überlappung. Die einzelnen sensiblen Oberflächenqualitäten zeigen bei dieser Überschneidung ein sehr unterschiedliches Verhalten: Während die sogenannte taktile Aesthesie (Berührungsempfindlichkeit) so weitgehend auf die Nachbarsegmente übergreift, daß die Unterbrechung einer einzelnen Wurzel im Bereich der taktilen Aesthesie überhaupt keinen Defekt erkennen läßt, so daß es kein Autonomfeld der taktilen Aesthesie für eine einzelne Wurzel gibt, sind die Segmentstreifen der Algesie enger begrenzt. Sie überlappen sich nur in geringerem Ausmaß. Die Unterbrechung einer einzelnen Wurzel verursacht deshalb in der Mitte des Segmentstreifens eine hypalgetische Zone. Diese hypalgetische Zone können wir bei der Untersuchung mit Schmerzreizen (Nadelstiche) meistens recht gut lokalisieren. Außerdem können wir uns an der Beschreibung der meist recht gut lokalisierten spontanen Wurzelschmerzen (z. B. beim Bandscheibenprolaps) orientieren, sofern der Patient zu einer klaren Beschreibung in der Lage ist. Weitere Untersuchungsmöglichkeiten zur Festlegung der Dermatome bieten uns die Hauterscheinungen beim Zoster und bei anderen segmental angeordneten Hautkrankheiten (etwa kapilläre oder pigmentierte Naevi). Die Effloreszenzen des Zoster können gelegentlich die Segmentgrenzen überschreiten, oft sind andererseits die Segmente nicht vollständig betroffen. In solchen Fällen kann die Prüfung der Algesie die Lokalisation des betroffenen Dermatoms gut ergänzen. In jedem Falle sind die Streifen der Zoster-eruptionen exakt an die Zentrallinie des betroffenen Dermatoms gebunden.

Die Ergebnisse aller dieser Dermatomstudien lassen sich im folgenden Schema zusammenfassen: Abb. 37 + 38. Das Schema wurde an anderer Stelle mit zahlreichen Bildern dokumentarisch belegt und ausführlich begründet.

2. Die segmentale Muskelinnervation

Die Mehrzahl aller Skelettmuskeln ist mehrwurzelig innerviert. Unterbrechungen einer einzelnen Wurzel werden deshalb in den meisten Muskeln von den Nachbarwurzeln kompensiert. Nur einzelne, jeweils im Zentrum des „Myotoms“ liegende Muskeln sind praktisch ausschließlich auf eine einzelne Spinalnervenwurzel angewiesen. Sie zeigen deshalb beim Ausfall dieser ihrer Wurzel Lähmungen vom peripheren Typ mit Neigung zur Muskelatrophie und Störung der elektrischen Erregbarkeit. Solche Muskeln werden als „Segmentkennmuskeln“ bezeichnet.

Diese für die Segmentdiagnose charakteristischen Muskeln wurden in mühevoller Kleinarbeit anhand entsprechender klinischer Fälle herausgearbeitet. Im allgemeinen handelte es sich bei diesen Krankheitsfällen um Wurzelkompressionen durch zervikale oder lumbale Bandscheibenvorfälle. Einzelheiten darüber müssen in den entsprechenden Veröffentlichungen nachgelesen werden, hier können die wichtigsten Tatsachen nur in Stichworten angedeutet werden.

Die wichtigsten Kennmuskeln sind folgende:

C 3/4   das Zwerchfell. Man findet bei der Röntgendurchleuchtung umschriebene Zwerchfellrelaxationen mit paradoxer Beweglichkeit bei Einatmung.
C 5   Innervationsstörungen im Bereich des Musculus deltoi-deus.
C 6   Parese der Beugung des Armes im Ellenbogengelenk durch Innervationsstörungen im Musculus biceps, Musculus brachialis und Musculus brachioradialis.
C 7   Parese der Daumenopposition mit Atrophie des Daumenballens.
C 8   Innervationsstörungen im Bereich des Kleinfingerballens.
L 3   Parese des Quadriceps femoris.
L 4   Leichtere Parese des Quadriceps femoris sowie deutlichere Innervationsstörung im Musculus tibialis anterior.
L 5   Parese des Musculus extensor hallucis longus.
S 1   Parese des Musculus fibularis longus et brevis, gelegentlich auch von Teilen des Musculus triceps surae.

In der Lumbaigegend können wegen des parallelen Faserverlaufes in der Cauda equina bei einem einzigen Bandscheibenvorfall mehrere Wurzeln auf einmal komprimiert werden. Die häufigsten Kombinationen sind Kompressionen der Wurzeln L 4 und L 5 oder L 5 und S 1. Derartige Lähmungsbilder können leicht mit einer peripheren Fibularislähmung verwechselt werden. Im Bereich des Thorax liegen die monoradikulär innervierten Muskeln - es sind dies vor allem die Interkostalmuskeln - jeweils unter der gleichnamigen Rippe (also das Myotom Th 8 zwischen der 8. und 9. Rippe).

Wichtig ist in diesem Zusammenhang der Hinweis, daß die oberflächlichen Rumpfmuskeln, die zum Bewegungsapparat der Extremitäten gehören, ganz anderen Segmenten zugehören als man nach ihrer topographischen Lage vermuten sollte: z. B. sind die Schulter- und Schulterblattmuskeln (Musculus pectoralis major und minor, Musculus serratus lateralis, alle an der Scapula ansetzenden oder entspringenden Muskeln und der Musculus latis-simus dorsi) ausnahmslos zervikalen Segmenten zugehörig, obwohl sie unter Hautarealen der mittleren oder gar tieferen Thorakaldermatome verborgen liegen. Auch die Interkostal- und Bauchmuskulatur entspricht größtenteils topisch nicht den Dermatomen: Die Dermatome (s. Schema) liegen vor allem in den unteren Thorakalsegmenten wesentlich tiefer (d. h. weiter caudalwärts) als die gleichnamigen Myotome.

Diese Diskrepanz ist bei vielen ausstrahlenden Schmerzen, die durch vertebragene oder viszerogene Muskelverspannungen verursacht werden, zu berücksichtigen, denn wenn man die myalgischen Zustände allein auf die Dermatom-schemata bezieht, so wird man leicht auf Irrwege geführt.

3. Die Zuordnung der wichtigsten Muskeldehnungsreflexe

Auch die Reflexuntersuchung gibt uns wichtige objektive Hin weise für die segmentale Höhendiagnostik. Diese Erkenntnisse verdanken wir ausgedehnten Studien an bandscheibenbeding ten Wurzelsyndromen. Wir nennen hier die für Bandscheiben prozesse wichtigsten Muskeldehnungsreflexe:

C 5/6   Bizepsreflex
C 7/8   Trizepsreflex
L 3/4   Quadrizepsreflex (Patellarsehnenreflex)
L 5   Tibialis-posterior-Reflex
S 1   Triceps-surae-Reflex (Achillessehnenreflex).

4. Die efferente vegetative Innervation

Die efferenten vegetativen Nervenfasern unterliegen gleichfalls einer segmentalen Ordnung. Diese Ordnung entspricht aber nicht - jedenfalls in größeren Bereichen des Körpers - der Dermatomeinteilung. Efferente Sympathikusfasern verlassen das Rückenmark ausschließlich innerhalb der Segmente C 8 bis L 2. Die Körperabschnitte oberhalb und unterhalb dieser Segmente müssen daher von den genannten Rückenmarksabschnitten mitversorgt werden, also die Kopf- und Halsregion aus C8 bis Th2, die Arme aus Th3 bis 6, die Beine aus Th12 bis L2 (vergl. Abb. 43 und 44). Diese anatomischen Tatsachen erklären wahrscheinlich manche viszerogenen Reizerscheinungen im Bereich der Extremitäten, die bis heute nur ungenügend erfaßt und aufgeklärt worden sind.

5. Die segmentale Zuordnung innerer Organe

Wie die Haut, so zeigen auch die Eingeweide keine primäre, anatomisch erkennbare segmentale Gliederung. Ihre Zugehörigkeit innerhalb dieser metameren Ordnung wird erst durch ihre Innervation, ihre Beziehung zum spinalen Nervensystem ermöglicht. Die Kenntnisse dieser Eingliederung verdanken wir vor allem Head, Mackenzie und Hansen, sie wurden ausschließlich durch klinische Beobachtungen erworben. Anatomisch-präparatorische Untersuchungen konnten hier nicht weiterführen, weil man die viszerosensiblen Fasern, die dieser metameren Gliederung zu Grunde liegen, morphologisch von den efferenten vegetativen Nervenfasern nicht unterscheiden kann, denn beide Systeme sind miteinander unübersehbar durchmischt.

Die klinischen Untersuchungen machten sich die an Haut und Muskulatur erkennbaren Reizerscheinungen zunutze, die bei akuten Organerkrankungen entstehen. Die segmentale Einordnung dieser Reizerscheinungen setzt selbstverständlich eine vorher erworbene Kenntnis der segmentalen Ordnung dieser Haut- und Muskelbezirke voraus, in denen sich die viszeroge-nen Reizerscheinungen abspielen. Nur auf diese Weise lassen sich die viszerogenen Erregungen, also vor allem die Head'-schen Zonen und die Mackenzie'schen Punkte (die zum Teil auch andere Namen tragen - so z. B. Boas'scher Punkt beim Magen- oder Zwölffingerdarmgeschwür) richtig verstehen. Dieses Verständnis wurde offensichtlich nur durch Einfügen solcher hyperalgetischer Zonen in die metamere Ordnung möglich.

Die Einsicht in diese Zusammenhänge wird erleichtert durch eine schematische Darstellung der nervalen Leitungsbahnen innerhalb eines Segmentes (Abb. 45). Dieses Schema ermöglicht gleichzeitig eine Erklärung unserer Vorstellungen, auf welchem Wege man von der Peripherie her, d. h. von der Haut aus, Einfluß auf Funktion und Schmerzempfindlichkeit der inneren Organe nehmen kann.

Wir erkennen in dem Schema die von der Haut herkommenden schmerzleitenden Nervenfasern, die über die peripheren Spinalnervenäste und über die hinteren Wurzeln das Rückenmark erreichen. Ihre trophischen Zentren (Ganglienzellen) liegen in den Spinalganglien. Diese schmerzleitenden Nervenfasern enden an den Hinterhornzellen des Rückenmarkes im Gegensatz zu den für die taktile Aesthesie zuständigen Fasern, die ohne Umschaltung direkt über den Hinterstrang des Rük-kenmarkes aufwärts ziehen. Ganz entsprechend verhalten sich die viszerosensiblen Fasern: Sie ziehen über den Nervus splanchnicus, durchlaufen ohne Umschaltung die Grenzstrangganglien und ziehen gleichfalls über die hinteren Wurzeln zum Rückenmark. Auch sie enden an den Hinterhornzellen. Ihre trophischen Zentren - die Ganglienzellen - liegen ebenfalls im Spinalganglion. Von den Hinterhornzellen aus werden die Schmerzreize im Rückenmark nach aufwärts über den Tractus spinothalamicus der Gegenseite weitergeleitet. Die Fasern kreuzen sofort etwa im Niveau der Eintrittszone zur Gegenseite hinüber.

Von hier aus, von den Hinterhornzellen des Rückenmarkes, kommt es zu segmentgebundenen Ausweitungen von Erregungsimpulsen:

1. Über Schaltneuronen gelangen die Impulse zu den großen Vorderhornzellen. Sie bewirken dadurch eine tetanische Spannungsvermehrung der segmententsprechenden Skelettmuskulatur. Diese Spannungsvermehrung, z. B. der Bauchdecke, kennen wir bei vielen Organerkrankungen. Unter Umständen können an bestimmten Stellen, den sogenannten Mackenzie'schen maximalen Druckpunkten, schmerzhafte Dauerkontraktionen der Muskulatur entstehen.

2. Außerdem erreichen die Impulse die segmententsprechenden vegetativen Nervenzellen im Seitenhorn des Rückenmarkes. Die Erregung dieser Zellen bewirkt im Bereich der Haut eine Aktivierung der Piloarrektoren, der ekkrinen Schweißdrüsen und auch der Vasomotoren, im Bereich der Eingeweide eine Aktivierung der glatten Eingeweidemuskeln und unter Umständen auch der speziellen sekretorischen Drüsen.

3. Im Bereich der Hinterhornzellen kommen, wie aus dem Schema (Abb. 45) hervorgeht, Schmerzmeldungen sowohl von der Haut her an als auch aus den Eingeweiden. Die Zahl der durch die hinteren Wurzeln einströmenden Schmerzerregungen übertrifft um ein Vielfaches diejenigen, die über den Tractus spinothalamicus weitergeleitet werden. Allein aus diesem Zahlenverhältnis läßt sich wahrscheinlich machen, daß es an dieser Stelle zu einer Reizverschmelzung der aus der Peripherie herkommenden Schmerzmeldungen kommen muß.

Alle Schmerzfasern - gleichgültig, ob sie von der Haut, den Muskeln oder von den Eingeweiden herkommen - enden hier an den Hinterhornzellen (Abb. 46). Die am weitesten verbreitete Hypothese für die Erklärung des sogenannten übertragenen Schmerzes (referred pain) unterstellt, daß es in diesem Bereich bei übermäßigen Schmerzmeldungen aus einem der peripheren Areale zu einer „Kumulation“ oder „Summation“ des Schmerzüberträgerstoffes kommen kann und dadurch zu einer Ausweitung der Schmerzempfindung, zu einer "Übertragung" in die peripheren Bezirke, deren Schmerzkabel gleichfalls hier enden: Also von einem erkrankten Organ her in das segmententsprechende Myotom und Dermatom, aber auch umgekehrt vom schmerzerregten Dermatom aus auf das segmententsprechende Organ (Enterotom). Es ist einleuchtend, daß auch schmerzhafte Wurzelalterationen (etwa bei osteochondrotischen Wirbelprozessen) gleichzeitig in das Dermatom, Myotom und Enterotom projiziert werden können.

Es soll nicht verschwiegen werden, daß auch andere Theorien zur Erklärung der übertragenen Schmerzen vorgetragen worden sind. Der Interessierte mag darüber nachlesen bei v. Auersperg: Schmerz und Schmerzhaftigkeit (Springer, Berlin, Göttingen, Heidelberg 1963). Wir folgen in unserer hier vorgetragenen Darstellung der Ansicht von Head, Mackenzie, Hansen u. a. Aus dieser Vorstellung heraus ergeben sich Ansatzpunkte für therapeutische Maßnahmen: Wenn es gelingt, durch vollständige Anästhesierung der Haut alle von hier ausgehenden Schmerzerregungen abzufangen (auch den „Normaltonus“, der subjektiv unbemerkt dauernd vorhanden ist und ein gewisses Quantum an „normalen Schmerzerregungen“ zum Hinterhorn sendet), so wird damit die Summe der im Hinterhorn aufgefangenen Schmerzmeldungen vermindert.

4. Es ist wahrscheinlich und tierexperimentell auch belegt, daß von der Haut ausgehende Reize im Bereich der Eingeweide nicht nur Schmerzen verursachen können, sondern auch efferente vegetativ gesteuerte Erregungen: Dyskinesien und sekretorische Störungen. So konnten unter Kälte- oder Wärmeanwendungen im Bereich der linksseitigen mittleren Thorakaldermatome Änderungen der Motilität und der Schleimhautdurchblutung im Magen beobachtet werden. Derartige Phänomene demonstrieren uns das, was wir unter dem Begriff der Unterbrechung der kutiviszeralen Reflexbahn verstehen. Bei segmententsprechenden Spinalnervenwurzel treten trotz gleichbleibender Hautreize diese Veränderungen am Magen nicht auf.


Die diagnostische Bedeutung der segmentalen Reflexe und Schmerzprojektionen

Die diagnostische Bedeutung der segmentalen Anatomie für die Höhendiagnose der wichtigsten Bandscheibensyndrome oder andersartiger Spinalnervenläsionen im Bereich der Hals- und Lendenwirbelsäule soll hier nicht noch einmal ausführlich dargestellt werden. Sie ergibt sich aus der Kenntnis des Dermatomschemas (s. Abb. 37/38), der Kennmuskeln (s. S. 31/32) und der typischen Muskeldehnungsreflexstörungen (s. S. 3l). Hier sollen die für die Organerkrankung charakteristischen Schmerzzonen und reflektorischen Störungen besprochen werden. Jedes Organ hat dank seiner nervalen Versorgung eine ihm eigene segmentale Bindung.

Diese Verbindungen sind für jedes Organ
1. seitenspezifisch und
2. segmentspezifisch.

Ad 1 Die Seitenprojektion der paarigen Organe bedarf keiner besonderen Besprechung. Sie ergibt sich aus der Lage der bilateral symmetrischen Organe (Lunge, Niere, Ovar, Testis). Bei den unpaarigen Organen gelten folgende Regeln: Nach rechts orientiert sind: Leber Gallenblase Duodenum Ileum Zökum Colon ascendens. Ausstrahlungen nach links hingegen zeigen: Herz Magen Pankreas Milz Jejunum Colon descendens und Sigmoideum. Das wichtigste und am leichtesten faßbare klinische Symptom der Seitenprojektion ist die sogenannte sympathische Reizmydriasis: die seitenentsprechende Erweiterung der Pupille. Freilich müssen hierbei - will man dieses Phänomen als reflektorisches Organzeichen werten - Augenerkrankungen ausgeschlossen werden, die das Pupillengleichgewicht stören können. Außerdem können Komplikationen diese Seitenregel beeinflussen, und insofern kann eine Änderung der Pupillenungleichheit weitere wichtige diagnostische Hinweise geben: eine akute Leberstauung bei einer Herzkrankheit kann eine Rechtsmydriasis bewirken, eine begleitende Pankreatitis nach einer Gallenkolik wird unter Umständen durch eine Links-mydriasis angezeigt.

Ad 2 Eine vollständige detaillierteAufstellung der speziellen Segmentprojektionen aller einzelnen Organe können wir an dieser Stelle nicht geben, dies würde den Rahmen der kleinen orientierenden Schrift überschreiten. Die Übersicht über die verschiedenen bei Organkrankheiten beobachteten hyperalgetischen Dermatome (die Head'schen Zonen) läßt leicht eine wichtige, aber oft übersehene Tatsache erkennen: Es gibt keine „organspezifischen Segmente“.Jedes Organ hat zwar seine charakteristische segmentale Projektion, aber es gibt jeweils mehrere Organe mit gleicher bzw. annähernd gleicher Projektion. Findet man also bei der klinischen Untersuchung reflektorische und algetische Störungszeichen, so kommen als Ursache nicht selten 2 oder 3 Organe in Frage, die man - kennt man die reflektorischen Organbeziehungen - dann aber rasch mit wenigen weiteren diagnostischen Hilfsmitteln erfassen kann. So können z. B. reflektorische und algetische Krankheitszeichen im Bereich von etwa Th8 bis ThlO vom Magen, von der Milz oder von der Bauchspeicheldrüse ausgehen. Stets zeigt uns die Gesamtkombination der reflektorischen Zeichen jedenfalls eine akute oder subakute Organerkrankung im Bereich der betroffenen Segmente an. Viele Organkrankheiten bewirken neben den segmentspezifischen Ausstrahlungen Schmerzprojektionen in das 3. und 4. Zervikaldermatom. Am bekanntesten ist der rechtsseitige Schulterschmerz bei der Gallenkolik. Diese Schulterschmerzen sind am ausgeprägtesten bei Organschäden, die sich in der Umgebung des Zwerchfelles abspielen. Sie werden wahrscheinlich über sensible Phrenicusfasern in die Zervikalsegmente geleitet. Der Phrenicus gehört dem 3. und 4. Zervikalsegment an (s. oben: Das Zwerchfell ist „Kennmuskel“ für diese Segmente!).

Wir können hier nicht die Vielfalt der Phänomene und auch nicht die Technik ihrer klinischen Untersuchungen in allen Einzelheiten darstellen. Daher müssen wir uns mit einigen Andeutungen begnügen.

Da es sich bei diesen Zeichen nicht um fixierte morphologische Gewebsveränderungen handelt, sondern um Funktionsstörungen, die teilweise flüchtig und sehr leicht beeinflußbar sind, muß man sie bereits bei den scheinbar unbeobachteten, schlafenden oder dösenden Kranken suchen, ehe man dessen spontan eingenommene Haltung verändern läßt. So bekommt man die wichtigsten Seitenhinweise: Die leichten mimischen Verkrampfungen, die Pupillenunterschiede, die halbseitige Verspannung der Rumpfmuskulatur, die zu einer leichten Verbiegung der Wirbelsäule zum Krankheitsherd hin führt usw. Nur die behutsame Palpation läßt uns die seitenunterschiedliche Klebrigkeit der Hautoberfläche und die geringen Temperaturdifferenzen erkennen (Unterschiede in der Schweißsekretion und in der Durchblutung), die Spannungsunterschiede des Subkutangewebes erfassen und vor allem auch die Seitenunterschiede des Muskeltonus in der Leibeswand wahrnehmen. Eine primäre Umlagerung des Kranken vor einer sorgfältigen Beobachtung oder eine sofortige heftige tiefe Palpation des Abdomens muß alle diese Zeichen sofort zerstören.

Auch die Erkennung der hyperalgetischen Hautfelder und der Maximalpunkte der tiefen Druckschmerzhaftigkeit setzt vorsichtige Untersuchung und auch eine Kenntnis der wichtigsten Lokalisation solcher Punkte voraus. Abrupte Palpation wahlloser Körperstellen macht die ganze Untersuchung illusorisch.

Die Reaktion des Patienten bei der Prüfung auf hyperalgetische Hautfelder oder auf maximale Schmerzpunkte der tieferen Muskelschichten erkennt man weit besser aus seiner Mimik oder evtl. dem reflektorischen Zusammenzucken als aus den Angaben des Patienten. Dabei sollte auf hyperalgetische Zonen zweckmäßigerweise mit der Kante eines abgebrochenen Holzspatels oder dem unteren Ende eines hölzernen Watteträgers als mit einer Nadelspitze geprüft werden.


Die therapeutische Nutzanwendung der kutiviszeralen Reflexe

In der Darstellung der segmentalen Reflexbahnen wurde bereits angedeutet, daß die vielfältigen Wechselbeziehungen zwischen Haut und Eingeweiden nicht nur wichtige diagnostische Phänomene auslösen können. Wir haben auch bereits schon auf therapeutische Anwendungsmöglichkeiten hingewiesen (s. S. 41). Das Studium der nervalen Verbindungen läßt theoretisch zwei Wege diskutabel erscheinen, die einer therapeutischen Einwirkung von der Haut bzw. ihren Nervenbahnen aus auf die Eingeweide nutzbar gemacht werden könnten.

1. Man kann die Schmerzerregungen, die von der Haut aus auf die segmententsprechenden Zentralen einströmen, herabsetzen durch:
a) Ausschaltung der Schmerzrezeptoren in der Peripherie oder
b) Leitungsblockierung an den erreichbaren peripheren Nervenstämmen oder den spinalen Nervenaustrittswurzeln (paravertebral). Diese Leitungsunterbrechung kann erfolgen:
a) passager durch Lokalanästhetika-Injektionen oder
ß) mit Hilfe von Durchschneidungen oder Resektionen, also dauerhaft.

2. Man kann auch durch geeignete Reize auf die vegetative Gefäßversorgung in der Haut einwirken und dadurch reflektorisch auch entsprechende Reaktionen der vegetativ gesteuerten glatten Muskulatur der Eingeweide und der Eingeweidegefäße aus lösen.

Beide Wege sind beschritten worden, beide haben zu therapeutischen Erfolgen geführt, beide sind theoretisch begründet und experimentell geprüft.

Ad 1 Wir gehen hier von der Vorstellung aus, daß sich die Schmerzreize, die im segmententsprechenden Rückenmarksabschnitt von Haut, Muskulatur und Eingeweiden her einströmen, kumulieren, summieren und sich wechselseitig sozusagen ergänzen können. Man darf weiter voraussetzen, daß der Zustand, der subjektiv in der Haut oder in den Eingeweiden als schmerzfrei empfunden wird, nicht ohne alle „Schmerzimpulse“ aus diesen Gebieten abläuft: Die Nervenleitungen sind nicht völlig unerregt. Es besteht ein bestimmter „Normaltonus“. Dieser Normaltonus wird subjektiv als Null empfunden. Treffen nun aber vom Organ her übermäßige Schmerzmeldungen im Rückenmarkssegment ein, so können die „Nullmeldungen“ von der Haut her bereits die Schwelle bewußter Wahrnehmung überschreiten: Das Hautsegment wird hyperalgetisch, wird zur Head'schen Zone. Gelingt es nun, durch Injektion von Lokalanästhetika in die hyperalgetischen Hautareale oder an die die Algesie leitenden Hautnerven alle Schmerzimpulse aus der Haut (also auch den „Normaltonus“) auszuschalten, so kann dies die Summe aller das Rückenmark treffenden Schmerzimpulse vermindern. Die Intensität der subjektiven Schmerzwahrnehmung nimmt ab, weil von der Peripherie herkommende zwar schwache, aber „kumulierende“ Schmerzimpulse aus der Summe aller das Segment treffenden Schmerzmeldungen ausgeschaltet werden. Diese analgesierende Wirkung wird dann besonders wirksam sein, wenn man auf diese Weise nicht nur den "Normaltonus" von Schmerzmeldungen abfangen, sondern darüber hinaus pathologische Schmerzreize ausschalten kann, die von segmententsprechenden Hautarealen oder ihren Nervenstämmen ausgehen, z. B. durch spondylotische Einengung der Nervenaustrittsöffnungen aus dem Spinalkanal. Solche Schmerzreize können u. U. bei dem segmental übertragenen Schmerzsyndrom so weit das Übergewicht haben, daß paradoxerweise das Organ sozusagen die Head'sche Zone der peripheren schmerzhaften Erkrankung darstellt: Beispiel: Pectanginöse Schmerzzustände bei osteochondrotischen Wirbelerkrankungen. Es ist leicht einzusehen, daß man derartige Schmerzmechanismen besonders leicht in der angegebenen Weise beseitigen kann.

Ad 2 Es ist eine uralte Erfahrung, daß man von der Haut her auf Funktionen der Organe einwirken kann. Die meisten Menschen haben bereits in ihrer Kindheit gelernt, daß man die in schmerzhafte Unruhe geratenen Därme nach einer zu gierig verzehrten Geburtstagstorte dadurch beruhigen kann, daß man die warmen Hände auf die Bauchhaut legt und diese dadurch erwärmt. Es ist klar, daß man auf diese Weise keine Erwärmung der Därme selbst erreichen kann. Die wohltuende Beruhigung ist ein reflektorischer Vorgang, ein kutiviszeraler Reflex durch Erwärmung der Haut, die segmental den unruhigen Därmen entspricht. Auf diesen Reiz hin erweitern sich die Hautgefäße und an dieser Erweiterung beteiligen sich auch die Gefäße der segmententsprechenden Darmbezirke und wahrscheinlich auch der vegetativ gesteuerten Darmmuskulatur selbst. Sowohl laparoskopisch als auch gastroskopisch hat man diese Wirkung direkt beobachten können. Umgekehrt kommt es auf anhaltende Kältereize hin zu Gefäßkontraktionen sowohl an der Haut als auch in den Eingeweiden. Eine Erweiterung der Hautgefäße kann man auf sehr unterschiedliche Weise erreichen. Man kann trockene Wärme anwenden, indem man Wärmflaschen, Heizkissen usw. auflegt, man kann feuchte Wärmereize geben, etwa mit Moorpackungen und sogenannten ansteigenden Teilbädern, oder man kann auch durch wohldosierte abwechselnde Wärme- und Kältereize eine Hautreaktion auslösen.

Aber auch mit den verschiedensten chemischen Substanzen kann an der Haut ein lokaler Reizeffekt mit Erweiterung der Hautgefäße und den entsprechenden reflektorischen Auswirkungen erreicht werden. Zu diesem Zweck werden meist Einreibungen oder Salben gebraucht, die ätherische Öle, Campher, Chloroform, Nikotinsäureester u. ä. enthalten*. Mit solchen Zubereitungen, deren Effekte an der Haut je nach der Konzentration der hautreizend wirkenden Substanzen mild bis stark sein können, lassen sich reflektorisch über das Segment nachhaltige Wirkungen erreichen. Therapeutisch wird eine solche Behandlung heute wieder viel und mit guten Erfolgen angewandt.

*Praecordin-Salbe


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